Posaunenchor begeistert mit Jubiläumsserenade
Mehrere hundert Besucher feiern 125-jähriges Bestehen des CVJM-Bläserchores in der Petruskirche
Mit einer bunten Mischung aus Bläsermusik, Gesang und Gerlinger Geschichte(n) hat der Posaunenchor des CVJM Gerlingen am Samstag den Abschluss seines Jubiläumsjahres gefeiert. Mehrere hundert Besucher machten dem „Jubilar“ bei einer Serenade in der Petruskirche ihre Aufwartung.
„Ich hoffe man sieht uns die 125 Jahre noch nicht an“, sagte Claudia Schumacher, die organisatorische Leiterin des Posaunenchors, an die Besucher gerichtet. Die Bläserinnen und Bläser streiften musikalisch die verschiedenen Epochen seit Bestehen des Posaunenchors, gaben aber auch mit Stücken aus früheren Jahrhunderten einen Einblick in ihr breites Repertoire. Immer im Notengepäck der Bläser sind dabei die Posaunenklänge – „ein Buch voller Schätze“, wie es Claudia Schumacher zum Eingangsstück „Heil dem Land“ beschrieb. Dass sie nicht nur mit Blech Musik machen können, sondern auch mit ihrer Stimme, stellten die Bläserinnen und Bläser mit zwei Gesangseinlagen unter der Leitung von Kantorin Beate Zimmermann unter Beweis. Und der Nachwuchs, der den Umgang mit den Blasinstrumenten erst noch lernen muss, stellte sein Taktgefühl schon einmal unter Beweis, in dem er die (Werbe-)Trommel rührte.
Ob im sonntäglichen Gottesdienst, beim Kurrende spielen an Heiligabend, beim Laternenlauf, bei Stadtfesten, bei Hochzeiten und Beerdigungen – der Posaunenchor des CVJM ist allgegenwärtig in Gerlingen. Mehr als 250 Bläserinnen und Bläser haben den Chor mit ihren Posaunen und Trompeten in den vergangenen 125 Jahren getragen. Bei mehr als zwei Dutzend Auftritten im Jahr erfreuen die Musiker bis heute die Zuhörer und lassen gleichzeitig das Evangelium buchstäblich laut werden.
Es sind sechs Idealisten, die im Jahr 1894 den Grundstein für den Posaunenchor legen. Gerlingen hat zu dieser Zeit 1915 Einwohner, wie Klaus Herrmann, der Leiter des Gerlinger Stadtarchivs, in Erinnerung bringt und sich dabei auf die Volkszählung im Jahr 1895 beruft – 1913 evangelische und zwei katholische Einwohner. Klaus Herrmann, „das Gerlinger Gedächtnis“, wie ihn Moderator Hans Scharna bezeichnet, umrahmt die musikalischen Darbietungen am Serenadenabend auf heitere und historische Weise mit Gerlinger Geschichte(n).
Zur Zeit der Gründung des Posaunenchors lebt die Gerlinger Bevölkerung von der Arbeit auf dem Feld, als Weingärtner, im Steinbruch oder im Wald. „Es gab noch keinen Arzt, keine Strom- und Wasserversorgung, keine Müllabfuhr in Gerlingen“, erinnert Klaus Herrmann, „und die Frucht wurde noch mit der Sichel geschnitten und mit dem Flegel gedroschen.“ Pfarrer ist zu jener Zeit Gustav Mörike, ein Vetter des Dichters Eduard Mörike.
In der nun beginnenden Zeit der Industrialisierung gingen viele Gerlinger in die Fabriken nach Feuerbach oder Stuttgart. Bei Begegnungen mit auswärtigen Vereinen und Treffen auf Bezirksebene lernen die Mitglieder des 1887 gegründeten Gerlinger Jünglingsvereins, aus dem später der Christliche Verein Junger Menschen (CVJM) hervorgegangen ist, Posaunenchöre kennen. Korntal hat bereits einen solchen, und so hegen die Gerlinger bald den Wunsch, auch einen Posaunenchor zu gründen. Geld für Instrumente ist nicht vorhanden. Aber nach langem Überlegen und nachdem sie 300 Mark auf Schuldschein geborgt haben, wagen sie den Schritt und kaufen sich bei der Musikalienhandlung Barth in Stuttgart die ersten Instrumente. Ein ehemaliger Gerlinger, Malermeister Christoph Mezger, der nun in Stuttgart wohnt, ist ihr Berater und auch ihr erster Lehrmeister. Er kommt wöchentlich zweimal, meist zu Fuß, nach Gerlingen und übt mit den angehenden „Posaunisten“. 1895 können sie ihre Kunst zum ersten Mal in Gerlingen zu Gehör bringen – bei einer Beerdigung. Bis heute verrichten die Bläser diesen Ehrendienst für die Toten.
In Gerlingen gibt es nun gleich drei Posaunenchöre, führt Herrmann aus: im Militärverein, im Männergesangverein und jetzt auch im CVJM. Dass die beiden erstgenannten Chöre auch bei anderen Anlässen auftreten, bleibt nicht ohne Konflikte, wie aus alten Protokollen des Kirchengemeinderats hervorgeht: „Allen Chöre, die zum Tanz aufspielen, werden Auftritte in der Kirche fortan versagt“, zitiert der Archivleiter aus den alten Niederschriften. Doch der Ausschluss dauert nur wenige Wochen, ehe der Beschluss unter teilweisem Protest wieder aufgehoben wird.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts steigt die Einwohnerzahl Gerlingens stark an, das Bauerndorf entwickelt sich vollends zur Arbeiterwohngemeinde. Bei den Gemeinderatswahlen erreicht die Sozialdemokratie bis zu 67 Prozent der Stimmen. Die Gesellschaft in dem Dorf am Fuße der Schillerhöhe ist zu jener Zeit tief gespalten zwischen bürgerlichen und linken Strömungen, macht Herrmann deutlich – es gibt zwei Sportvereine, zwei Gesangvereine. „Der christliche Glaube war das Bindeglied, das beide Strömungen zusammengeführt und zusammengehalten hat“, betont der Archivleiter die Bedeutung der Kirche. Der Posaunenchor muss seine Arbeit während der beiden Weltkriege nahezu einstellen, weil die meisten Mitglieder im Krieg sind, das Vereinshaus des CVJM wird im Dritten Reich an die evangelische Kirchengemeinde übertragen, um es dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Das 50-jährige Bestehen des Posaunenchors im Jahr 1944 wird nicht gefeiert.
Umso größer ist die Dankbarkeit der Bläser, als sie 1946 beim Landesposaunentag vor dem Ulmer Münster wieder im „größten Posaunenchor der Welt“ mitspielen können. „Ein unvergessliches Erlebnis“, zitiert Herrmann aus einer Chronik – und in Erinnerung daran spielt auch der Posaunenchor unter der Leitung von Grigori Puschanski am Serenadenabend den Choral „Nun danket alle Gott“. Viele Kriegsheimkehrer werden in den 1940er und 1950er Jahren vom Posaunenchor musikalisch in der Heimat begrüßt, auch viele Arbeiter, wie Herrmann betont.
Längst ist der Posaunenchor nicht mehr nur in Gerlingen zu hören: Auch Auftritte im Süddeutschen Rundfunk und in der ARD-Fernsehserie „Grüß Gott, Frau Pfarrerin“ gehören zur Geschichte.
Nachdenklich hält Klaus Herrmann fest, dass Gerlingen 125 Jahren nach Gründung des Posaunenchors knapp 20.000 Einwohner zählt, aber nur noch rund die Hälfte davon christlichen Glaubens ist. Doch die Rolle des Posaunenchors als Bindeglied hat nichts von ihrer Bedeutung verloren.
Im Anschluss an das Konzert tauschten viele Besucher aus nah und fern im Petrushof ihre ganz persönlichen Erinnerungen aus der 125-jährigen Geschichte des Posaunenchors beim Ständerling aus. sr